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Eröffnung der Herbstausstellungen

Gedanken zu den Herbstausstellungen in der Kunststation 2020

von Kuratorin Dr. Elisabeth Heil

Kunst ist stets eine Auseinandersetzung mit der Welt, mal im umfassenden Sinn, mal unter besonderen Aspekten. So vielfältig sich uns die Welt darbietet und so individuell die Künstlerpersönlichkeiten und ihre Arbeitsweisen sind, so unterschiedlich sind auch die Ergebnisse. Die Beschäftigung mit der Welt wie mit der Kunst wird immer den Blick schärfen und auf faszinierende Weise unser Sehen bereichern. Die Vielfalt der Kunst zeigt sich auch in den neuen Ausstellungen der Kunststation, die ab 6. September 2020 zu sehen sind. Und doch eint die Werke der Gedanke, dass sie auch zeichenhaft für Wesentliches unseres Daseins und unseres Verhältnisses zu dieser Welt bzw. zur Schöpfung stehen.

INK – Glaube, Hoffnung, Liebe

„Glaube, Hoffnung, Liebe“ – so hat Ingrid Sonntag – Ramirez Ponce, kurz INK, ihre Ausstellung überschrieben. INK lebt und arbeitet im Jossgrund und zeitweise auch in Andalusien. Sie gewann 2017/18 den Publikumspreis der Wettbewerbsausstellung „Sie und Er – Wer sind Wir?“ hier in der Kunststation Kleinsassen, schon damals mit Arbeiten rund um das Thema „Adam und Eva“. Die Frage nach dem „Wir“ hat sie nun erweitert bzw. konkretisiert in der Frage, an was wir heute wirklich glauben, auf was wir hoffen, was wir lieben und welche Bedeutung die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe in unserem Dasein spielen. „Eva“, die für Frauen unterschiedlichster Charaktere steht, gibt verschiedene Antworten, die INK in akribisch ausgeführten Bleistiftzeichnungen festhält. Allein ist Eva die Verführerin oder wird als solche wahrgenommen, wenn sie selbstbewusst oder verträumt, jugendlich frisch oder nachdenklich auftritt oder in kleinen Teilporträts ihr Gesicht in Szene setzt. Auf was hofft Eva? Auf ein glückliches Ende einer Schwangerschaft und ein neues Glück? Dass die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers, wie er in den Torsoformen aufscheint, ihr lange erspart bleibt? Auf ein Lebensende in Reife, Zufriedenheit und hohem Alter? Auf erfüllte Partnerschaft, auf Liebe? Voller Leidenschaft und mit klagendem Schmerz drücken die Flamencotänzerinnen die Diskrepanz zwischen Hoffnung und Existenz aus. Und Adam? Für INK erscheint er voll ausbrechender Dynamik, mit dem Strahlen des Superstars, mit der willensstarken Energie des Toreros, aber auch als zärtlicher Partner, mit Eva die Frucht der Erkenntnis austauschend.

Seit Jahren hat INK ihren fast hyperrealistischen Zeichenstil immer weiter verfeinert. Ein solch minutiöses Arbeiten braucht unendlich viel Zeit und Ruhe, ein besonderes Papier, besondere Stifte, vor allem günstige Lichtbedingungen. Doch es bleibt nicht beim Zeichnen auf Papier. INKs Figuren drängen mehr und mehr in den Raum, sodass einige neue Ideen tatsächlich dreidimensional umgesetzt werden und Objektkästen benötigen. Vor allem nutzt INK den Anraum der Ausstellungshalle, um in einer Installation mit Zeichnungen, Objekten, Klang und Lichttechnik die eindringliche Frage nach dem Glauben in religiöser Hinsicht zu stellen. Tabubrüche und Provokationen in der Kunst sind heute geradezu Alltag geworden und keine Aufreger mehr. In einem Ausstellungsraum eine Grablege zu inszenieren, ist hingegen außergewöhnlich und wirkt höchst irritierend. Und doch ist es gerade diese ungekannte Situation, die den Betrachter zum Innehalten und zur eigenen Stellungnahme zwingen mag: Setze ich mich der Frage nach Glaubensinhalten überhaupt aus und mit welchem Ergebnis? Auf was hoffen wir über unsere bloße Existenz hinaus – auf einen Sinn des Lebens, auf Schutz, auf ein paradiesisches Jenseits?

Abi Shek – Geschöpfe und Zeichen

Auch in der Ausstellung „Geschöpfe und Zeichen“ von Abi Shek berühren uns religiöse Weltsichten. Bald begehen Juden wieder ihre Hohen Feiertage Rosh Hashana (Neujahr) und Jom Kippur (Versöhnungsfest) und dazwischen die Tage der Reue und Umkehr. Wichtiger Liturgiebestandteil in den Synagogen ist das Gebet „Unetane Tokef“, denn Gott wird zu Neujahr entscheiden, wer in den nächsten Monaten zu Tode kommen wird und wie und wer weiterleben darf. Abi Shek hat dieses Gebet, das bis ins 8. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist, in archaisch wirkende Tafeln eingeschlagen. Auch wer den Text selbst nicht lesen und verstehen kann, wird sich der Aura der Formen und des matten Schimmers des verzinkten Bleches nicht entziehen können. Gleiches gilt für die Löwen, die einen stilisierten Thoraschrein bewachen. In ihren Leibern sind die Lobpreisungen eingeschrieben, die der Hausherr an Pessach über Brot und Wein spricht. Löwendarstellungen sind in vielen Synagogen wie auf Grabsteinen zu finden, denn der Löwe symbolisiert Juda und seinen Stamm. 

Abi Shek, der in Israel geboren wurde, hat in Stuttgart bei Micha Ullman studiert und lebt und arbeitet noch heute in dieser Stadt. Sein Interesse gilt archäologischen Funden und langen, geschichtlichen Traditionen. Tiere waren für den Menschen stets Mitgeschöpfe, die er beobachtete und schon vor Jahrtausenden zeichnete und malte, deren Charakter, deren Wesen er zu ergründen suchte, deren Eigenschaften er immer mit den eigenen verglich. Was ist das Wesen eines Tieres? Das, was der Künstler in ihm sieht und was der Betrachter in ihm entdeckt und erlebt.

Abi Shek porträtiert keine Tiere, kümmert sich nicht um Gattungsmerkmale, nicht um Wald und Wiese als Lebensort und schon gar nicht um eine perspektivische Darstellung. Seine Tiere erscheinen rein und schwebend auf weißer Leinwand oder weißem Papier, in Schwarz und Blau, als Holzdruck oder Tuschezeichnung, ohne perspektivische Verzerrungen und meist ohne alle Zutat. Sie sind Inbegriff ihres Wesens und doch voller Leben, majestätisch, verspielt, verschreckt, angriffslustig, aufgeregt, oft mit sich selbst beschäftigt. Wenn sie sich versammeln, vor Ausstellungswänden aneinanderreihen, dann kommunizieren sie miteinander, agieren und reagieren und bilden eine illustre, faszinierende Gemeinschaft. Und sie erlauben uns, in ihre Mitte zu treten und sie zu beobachten – mit Respekt und Zuneigung.

Günter Liebau – Strukturen

Einen wiederum anderen Blick auf die Welt finden wir im Werk des Burghauner Künstlers und Galeristen Günter Liebau. Er hat sein besonderes Augenmerk auf interessante, spurenreiche Oberflächen gerichtet – mit Einprägungen oder Abdrücken, mit Aufbrüchen und Rissen, gleich ob es sich um Erdboden oder Wandverkleidungen handelt. Es sind Oberflächen, die Geschichten erzählen könnten von Ereignissen von außen und von Veränderungen in der Materie, von natürlichen Wandlungen und von Eingriffen durch Menschenhand. In der Fülle von „Strukturen“, die die Materie von der Tiefe bis zur Oberfläche (und vice versa) durchdringen, findet Liebau die Themen seines Kunstschaffens schlechthin.

Günter Liebau

Alles basiert auf einer beharrlichen Freude am Experimentieren mit unterschiedlichen Materialien und geht einher mit präzisen Vorstellungen von Pigmentierung und Farbigkeit. Liebaus Bildwelten entstehen als plastische Reliefs. Spachtelmassen, die er selbst für seine Bedürfnisse entwickelt und herstellt, werden auf Trägerplatten aufgeschichtet. Sie trocknen, reißen dabei auf, geben tiefe Spuren vor. Auf diese Strukturereignisse reagiert Liebau mal mäßigend-ausgleichend, mal verstärkend. Von gleicher Wichtigkeit ist die farbige Behandlung und Gestaltung, denn die Farben materialisieren sich gleichsam im Relief. Liebau bevorzugt die Primärfarben Blau, Rot und Gelb, wobei Blau alles dominiert. Doch liegen in den unteren Schichten Grün- oder Ockertöne, die selbst ungesehen aus der Tiefe mitwirken. Ob die Farben pudrig aufzuliegen scheinen, sich in der Spachtelmasse festigen oder unter einer glänzenden Schicht Epoxidharz hervorleuchten, das bestimmt den besonderen Eindruck eines jeden Werkes mit. Am Ende steht so die farbige Inszenierung der Strukturen und einer Bildwelt, die unter wechselnden Lichtverhältnissen immer wieder anders in Erscheinung tritt.

Ute Bauer-Schröter – Zur schönen Aussicht

In der Studioausstellung finden wir schließlich Landschaftsdarstellungen, die gleichwohl keine Naturabbilder sind. Ute Bauer-Schröter, die zunächst Schmuckdesign in Pforzheim und später an der Kunstakademie in Nürnberg studiert hat, gestaltet ihre Bildwelten im Murnauer Atelier in einem aufwändigen Verfahren aus Collage und Acrylmalerei. Mit Seiden- oder Zeitungspapier erschafft die Künstlerin Gebirge und andere Landschaftsmotive, Figürliches und Bauwerke, fixiert diese auf Leinwand und überfasst sie mit nuancenreichen Farben. Und es mag für den Betrachter zu einer interessanten Entdeckungsreise werden, die eingearbeiteten Materialien wieder aufzuspüren. „Zur schönen Aussicht“ ist eines der Werke betitelt und wurde namensgebend für die Ausstellung.

Ute Bauer-Schröter

Verbinden wir damit in einer von Corona und Unruhen geplagten Zeit auch die Hoffnung auf gute Aussichten für uns, für alle Geschöpfe, für diese Welt!

Fotos: Lothar Reichardt und Hanswerner Kruse