Kuratorin Dr. Elisabeth Heil, über die Ausstellung „Lust auf Kunst“ anlässlich der Neueröffnung der Artothek der Kunststation Kleinsassen am 19. Juli 2020
Lust auf Kunst zu wecken und immer wach zu halten, das war von jeher das Ziel der Kunststation Kleinsassen. Gegründet wurde sie 1979, um hier im metropolenfernen Malerdorf unter der Milseburg Kunstschaffende und Kunstinteressierte in Ausstellungen, Symposien und Workshops zusammenzubringen und aktuelle Kunst aus der Region und aus aller Welt zu präsentieren. Ungefähr 2000 Künstler*innen haben seither hier ausgestellt. Einige von ihnen waren zu Arbeitsaufenthalten zu Gast oder lebten in der Kunststation für längere Zeit als Stipendiaten. Nicht selten wurden die Künstler*innen durch Ankauf von Werken gefördert. Es entstand eine Kunstsammlung, die auch jetzt beständig wächst. Als Ort der aktiven Kunstbegegnung war die Kunststation aber nie als Museum mit unantastbarem Depot gedacht. So passte es wunderbar in dieses Konzept, dass sich die Kunstsammlung 1997 als Artothek dem Publikum öffnete, um diesem neue, lustvolle Möglichkeiten eines intensiven Kunstdialogs zuhause oder am Arbeitsplatz anzubieten: Interessierte können Werke auswählen, zu geringen Gebühren ausleihen und sogar ankaufen, ggf. unter Anrechnung von Leihgebühren. Jetzt breitet die Kunststation für sechs Wochen unter dem Titel „Lust auf Kunst“ eine üppige Auswahl aus der reichen Sammlung der Artothek in ihren Ausstellungshallen aus, lädt damit zu ungewöhnlichen Kunstbegegnungen ein und feiert so die Neugestaltung und Wiederöffnung der Artothek nach einer Renovierungspause.
Die Idee, Druckgraphik und Malerei zu verleihen, ist schon alt. In früheren Jahrhunderten haben dies einige Leihbibliotheken angeboten. Eigenständige Artotheken wurden vor allem nach den Weltkriegen gegründet, auch um Kunstschaffende zu fördern und ihnen wieder ein Publikum zu sichern. Inzwischen verzeichnet der Verein deutscher Artotheken etwa 140 Standorte in Deutschland. Davon sind etliche Angebote an Stadtbüchereien, Städtische Sammlungen oder Kunstvereine gebunden, die aus einem eher begrenzten Künstlerkreis schöpfen. Der Bestand anderer Artotheken ist – ähnlich demjenigen der Kunststation – sukzessive aus Ankäufen nach Ausstellungen entstanden. Selbst im Reigen großer Artotheken, z. B. in Köln, kann sich die Kleinsassener Sammlung sehen lassen: Besucher können hier aus fast 1300 Werken von 450 Künstler*innen auswählen!
Die Artothek der Kunststation Kleinsassen reflektiert die Ausstellungsgeschichte dieses Ortes, der am Anfang vor allem mit großen Schauen konkreter und konstruktivistischer Kunst hervortrat und in den 1990er Jahren zunehmend der damals noch geschmähten realistischen Kunst Raum bot. In Kleinsassen diskutierten und arbeiteten Künstler*innen unter anderem zum Thema des Menschenbildes oder über ein neues Verständnis der Landschaftsdarstellung. Hierher wurde immer wieder zu Kunstaktionen eingeladen – mit weithin beachteten Ergebnissen. Eine lebendige Kunstszene schufen überdies Kooperationen und Austauschprogramme mit südost-europäischen Ländern, aber auch mit Finnland und Schweden. Als der Bürgerkrieg in Jugoslawien ausbrach, wurde die Kunststation zum Zufluchtsort für etliche Künstler aus Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Hieraus erklärt sich die ansehnliche Zahl an Werken rumänischer, bosnischer und slowenischer Kunstschaffender in der Artothek. Noch vor 1990 wurden Ausstellungen mit Künstlern der DDR und aus der Sowjetunion geplant und zur Wendezeit realisiert. Später gab es Ausstellungen mit Gegenwartskunst aus Argentinien, Vietnam, China und Indien, in jüngster Zeit von Sinti und Roma, aus Äthiopien und Aserbaidschan – allesamt ungewöhnliche Projekte in ihrer Zeit.
Die ganze Opulenz der Kleinsassener Artothek erschließt sich neu im Zuge der jüngst erfolgten Renovierung: durch die Sichtung aller Werke beim Ausräumen der Ziehwände, Graphikschränke und Magazinbereiche, durch das Fotografieren aller Werke und durch die Vorbereitungen einer Ausstellung in den Hallen sowie die Neubestückung der Ziehwände. Insbesondere große Gemälde, Skulpturen und Graphik-Editionen und -Einzelblätter kamen dadurch „ans Licht“ und wurden nur zu gern in die Ausstellung einbezogen. Viele Zeichnungen und Druckgraphiken sind jetzt erst gerahmt worden und nach langer Lagerzeit in Graphikschränken überhaupt das erste Mal in der Kunststation zu sehen. Wer nun Ausstellung und Artothek besucht, mag auf einige „alte Bekannte“ treffen, er wird aber noch mehr Neues, Ungesehenes entdecken.
Das Angebot der Kunstsammlung ist insgesamt so reich, dass trotz einer großen Auswahl für die Ausstellungshallen viele wichtige, qualitätvolle Werke ihren Platz gleich wieder an den Ziehwänden finden müssen und leider nicht in den Hallen zu sehen sind. Die Ausstellung „Lust auf Kunst“ wird aber sicher die Neugier auf das wecken, was der Artotheksraum darüber hinaus aufnimmt, und auf das, was alles über die Fotodateien des Terminals herausgesucht werden kann, darunter Bestände im Magazin oder die Aussicht auf Arbeiten, die gerade verliehen sind.
Die Sammlung der Artothek ist das Thema der Ausstellung „Lust auf Kunst“, nicht ein Künstleroeuvre, nicht ein Stil. Unter der Fülle an Werken galt es vorrangig diejenigen zu finden, die zueinander passen bzw. die in einen spannungsreichen Dialog zueinander treten können – frei von Stil- und Themengrenzen, frei von Material- oder Technikvorgaben, frei von geographischen oder chronologischen Ordnungsprinzipien. Wie von selbst ergab sich ein ungezwungenes, anregendes und überraschendes Miteinander von Arbeiten aus 40 Jahren Kunststation mit allen Techniken und einer Vielfalt an Themen und Materialien, von Künstlern aus der Region und aus fernen Ländern, aus wichtigen Ausstellungen und Kunstprojekten. Lustvoll breitet sich in den Hallen nun die ganze Vielfalt und Lebendigkeit der Kunst aus. Schauen Sie selbst! Kommen Sie mit auf einen Rundgang durch die drei Hallen!
Der riesige Linolschnitt „Im Fluss“ von Susanne Bockelmann, der bislang auf einer Rolle im Depot lagerte, führt in Halle 1 ein, vorbei am „Krokodil“ von David Weiss zur nackten Sitzenden (und Badenden?) von Viorel Nimigean und zu den fröhlichen Reiseerinnerungen in Aquarell von Christian Rothmann. Farbstark leuchten Mohn und Christstern von Klaus Fußmann dem Besucher entgegen.
Im rechts angrenzenden Raum erwarten den Besucher Darstellungen von Kleinsassen und aus der Rhön: Aquarelle und Malereien von Josef Diegelmann, Gemälde von Nikolaus Störtenbecker, Friedel Anderson, Andrej Bazanov, Ivan Donkov und Predrag Hegedüs, die während ihrer Arbeitsaufenthalte in Kleinsassen sich oft und gern mit Dorf und Landschaft auseinandersetzten. Arbeiten von Jürgen Blum, der die Kunststation 1979 mitbegründete und ihr Gesamtprogramm ausformte, dürfen hier nicht fehlen. Zeichnungen und Graphiken von Lothar Reichardt, Robert Weingärtner, Jana Schwarz, Peter Blum und sowie Blätter aus den Graphik-Editionen „Rhön“ und „Fulda“ von Madeleine Adrian-Mohr, Michael Mohr, Robert Becker, Linda Doernbach, Michael Huth und Lucia de Figueiredo bieten weitere interessante Blicke auf die „Heimat“.
Zurück in Halle 1 reihen sich hier an den Wänden hervorragende Papierarbeiten aneinander: Lithographien, Radierungen, Kreidezeichnungen, Collagen und andere Mischtechniken von ganz unterschiedlichen Künstlern aus unterschiedlichen Kulturkreisen und aus unterschiedlichen Zeiten. Formate, Farben und Formen setzen Akzente oder bieten dem Auge etwas Verbindendes, wirken „beruhigend“ oder leiten zum nächsten Werk über. Siglinde Kallnbachs „words“ harmonieren mit dem Farbholzschnitt-Unikat „drunter und drüber“ von Bernhard Jäger, dessen Figuren in Dialog zum Terrakotta-Jüngling von Lothar Nickel treten. Ebrahim Ehraris Farbradierung „Ausbruch“ nimmt die Fenstersituation in der Hallenecke auf, zwei wundervolle Aquatinta-Radierungen schließen sich an, bevor Mirta Ripolls große, erst jetzt entdeckte Radierung „Raum und Mensch“ einen mächtigen Farb- und Formakzent setzt. Auch das Ölgemälde von Milivoje Unkovic, das im silberfarbenen Rahmen Stein- und Metallfunde wie Preziosen darbietet, hat etwas Überraschendes, ist aber in seiner Farbigkeit stimmig zu den drei Graphiken von Angelika Beckmann, Walter Graf und Heinrich Beckmann aus der Edition „aus-geburt“. Drei malerische Lithographien von Armin Müller-Stahl leuchten mit ihrem Sonnengelb hervor, woran sich die Papierarbeiten von Günter Liebau (Strukturen, Mischtechnik), Wolfgang Beck (Kopf, Mischtechnik) und Wang Yonong (Kopfformen, Unikat-Druck von zwei geätzten Platten) mit prägnanten Formen in eher verhaltener Farbigkeit anschließen. Auch die gegenüberliegende Wand mischt Realistisches mit Geometrischem und Abstraktem: Wortarbeiten von Dietmar Balling (Radierungen), Ölkreidezeichnungen mit kubischen Elementen von Frans de Bueger, Collagen von Ralf Klement und Teresa Dietrich, mitten drin als Überraschungseffekt der gelbe große Kürbis von Elena Bazanova (Aquarell) und am Ende die kleine Kohlezeichnung von Horst Hirsig und die präzisen Architekturzeichnungen bosnischer Städte von Hasan Suceska. Aisaku Suzukis O-Form aus weiß glasierter Keramik korrespondiert mit den „O“s der frechen Tuscharbeit von Ursula Schumacher „Emil ist dooof“, welcher die frischen kleinen Arbeiten „Flug 1“ und „Flug 2“ von Beate Gördes an die Seite gegeben wurden. Das darf man sich in einer Artotheksausstellung ebenso erlauben wie die Aufmerksamkeit und Schmunzeln hervorrufende Zusammenschau von Ellen van Ess‘ drei Vögeln über einer Metallskulptur von Lothar Nickel. Letztere trägt zwar den Titel „Ritterkopf“, darf aber hier augenzwinkernd auch anders interpretiert werden. Keine der Arbeiten verliert – im neuen Kontext – ihren eigenen Wert und ihre Würde, was durchaus ihre Qualität ausweist.
Auch am Übergang zu Halle 3 finden sich ganz unterschiedliche und faszinierende Arbeiten zu einer Gruppe zusammen: Timm Kregels Farbholzschnitt „Libro della notte“, ein kleiner Linoldruck von Susanne Bockelmann, zwei fantastisch anmutende Darstellungen des Mexikaners Jesús Tonantzin, ein Baumscheiben-Abdruck mit handgeschriebenem Text über Bäume von Siegfried Gerstgrasser und zwei hinreißende Teebeutel-Tusche-Bilder von Monika Sieveking.
In Halle 3 mag überraschen, wie scheinbar mühelos sich farbstarke Gemälde und Fotografien in einem erzählerischen Modus aneinanderfügen lassen. Peter Blums blaugoldener Künstlerfrack mit Notenschlüssel-Anstecker bildet mit Mojgan Razzaghis inszenierten Fotografien iranischer Musikerinnen ein unwiderstehliches Trio. Das 1991 entstandene Gemälde „Die wunderbaren Stunden“ von Ion Aurel Muresan setzt die Feststimmung mit feuerwerksartigen Farbtupfen fort. Daneben wirbelt das große Karussell von Siegfried Räth, beäugt von der Skulptur eines Pfaus von Mariano Cornejo. Dass das quadratische Acrylbild der Finnin Miia Änäkälä, das den Kleinsassener Kirchturm in reduzierter Formensprache wiedergibt, zwischen der konkreten Kunst mit quadratischen und geometrischen Formen von Jean Spencer und Mirko Maric hängt, ist sicher nichts für Puristen. Aber es ist eine durchaus erfrischende und spannende Möglichkeit, Sehgewohnheiten zu überdenken, Format- und Farbbezüge augenfällig werden zu lassen und zu konstatieren, dass sich gute Kunst über Stilgrenzen hinweg gegenseitig etwas mitteilen kann. Die kubistisch anmutende Arbeit von Alexander Deisenroth folgt und leitet mit ihren Farbtönen weiter zu Peter Blums Bild „Gipfelsturm“, einer Tee trinkenden Dame mit rosafarbener Haartrocknerhaube. Zwischen „Gipfelsturm“ und den quadratischen, tiefblauen Strukturbildern von Günter Liebau ist ein Werk von Dare Birsa platziert, das stilistisch und inhaltlich so andersartig ist und mit ihnen dennoch über Form und Farbe kommuniziert.
Jana Schwarz, die lange in Kleinsassen gelebt hat, hat auf ihre ganz eigene Weise sich des Ortes und ihres Arbeitsraums in der Kunststation angenommen. Die rote implodierte Pyramide, die Ewerdt Hilgemann im Rahmen des Projektes „Kunststraße Rhön“ (1986) schuf und die bis heute in der Nähe zur Kunststation wie ein Wahrzeichen steht, taucht im Gemälde „Erntedank“ mehrfach auf. Bernd Baldus hat sie in einer Radierung ebenso verewigt wie ein weiteres Werk aus diesem Projekt (Metallskulptur von Marcello Morandini) – Grund genug, sie mit der Radierung „Draht zu Fulda“ und Klaus Heidtkes kleinen Ölgemälden mit Fulda-Ansichten zu kombinieren.
Skulpturen breiten sich in der Hallenmitte aus, vor den Gemälden von Jean Spencer und Mirko Maric sind es fünf schwarze Metallbleche, die wohl auch Jan Kuipers zugeschrieben werden können und die zuletzt 1987 in Kleinsassen ausgestellt waren. Eine Tonflasche (Vase) von Jochen Brandt, zwei „Stein-Achsen“ aus gebranntem Ton von Mia Hochrein und geflammte Zeitungstaschen von einem unbekannten Künstler wurden vor den Werken von Peter Blum, Dare Birsa, Günter Liebau und Jana Schwarz installativ angeordnet, weil sie mit Themen und Formen dieser Bildwerke korrespondieren.
Die Wand zwischen den Zugängen zu Halle 1 und Halle 2 ist bewusst in „Schwarz-Weiß“ bzw. in reduzierter Farbigkeit gehalten. Jürgen Blum, einer der Väter der Kunststation, tritt uns in einem großen Porträt von Marion Hille entgegen – bzw. er blickt auf das Werk Nr. 77 seines polnischen Künstlerkollegen und Freundes Henryk Stazewski (im Gründungsjahr 1979 entstanden) und auf den Siebdruck „Konstruktion“ des Bildhauers Ingo Glass. Auf dem Sockel davor fordert Jürgen Blum mit seiner Arbeit aus lackiertem Stahlblech „das Recht des Raumes“. Das kleine Materialbild „Porträt“ von Sabine Burmester entstammt dagegen der jüngsten Ausstellungsgeschichte der Kunststation, aus der Ausstellung „Myths Upcycled“ von 2018. Auch die Ausstellungen von Anja Harms und Beate Debus, die an der Wand mit einem Ölgemälde und einer großen Kohlezeichnung vertreten sind, liegen noch nicht lang zurück. Die geschwungenen Formen des Bootes (Harms) und des Tänzers (Debus) finden ihr Pendant im „Kopf“ von Faxe Müller, Relikt aus einem spektakulären Meilerbrand nahe der Kunststation 1996.
Im Sammlungsbestand der Artothek gibt es etliche bemerkenswerte Werke zu religiösen Themen. So lag es nahe, den kleinen Zwischenraum zwischen den Hallen als Kapelle aufzufassen und mit dem großen „Cross“ von Predrag Hegedüs, der kleinen Version der Kreuzigungsgruppe des „Weges der Hoffnung“ von Ulrich Barnickel, einer Elias-Radierung von Sylvia Molz-Rehli sowie mit Marien-Lithographien von Salvador Dalí und Lithographien nach mittelalterlichen Christus- und Heiligendarstellungen von Johannes Heisig auszustatten. Die religiöse Thematik setzt sich am Übergang in die Halle 2 fort. Der Blick auf die Kreuzabnahme des ehemaligen Stipendiaten Andreas Ensslen macht deutlich, dass sich die Sammlung nie provokanten Darstellungen verschlossen hat und damit immer einen intensiven und kontroversen Diskurs fördern wollte. Als Gegenpol sind die Bronzefiguren der im Fuldischen bekannten Künstlerin Agnes Mann ausgestellt, die sich mit ihrer eigenen Bildmächtigkeit und tiefen, keuschen Frömmigkeit gegenüber Ensslens Gemälde behaupten.
Da die Artothek der Kunststation aus ihrer Kunstsammlung hervorging und nicht als solche erst begründet und verleihorientiert angelegt wurde, enthält sie neben unbeschwerten, leicht in Umlauf zu bringenden Bildwerken auch Darstellungen mit schweren, ernsten Motiven. Dazu gehören die „Don Quichote“ – Radierungen von Nuria Quevedo, beide von ungemein starker Ausdruckskraft. Beeindruckend sind auch die Farbradierungen (Aquatinta) der Argentinierin Marta Perez Temperley – ein U-Boot-förmiger Fisch und ein Lokomotiven-„Stahlross“. Ein Aquatinta-Blumenstillleben der Künstlerin zwischen den Ungetümen heitert ihre Abfolge auf, während ihrer Bewegungskraft nur die Holzskulptur „Das Ende ist nahe“ von Bodo Korsig tatsächlich ein „Ende“ zu setzen vermag. Die Darstellung einer kauernden Frau von Radmila Jovandic-Dapic (Pastell) hing jahrelang weitgehend unbeachtet an den Ziehwänden der Artothek. Großformate haben es dort besonders schwer, weil ein Betrachten mit ausreichendem Abstand kaum möglich ist. Welche Wirkung entfaltet nun diese Arbeit alleingestellt auf einer Wand und unter guter Beleuchtung!
Nikolaus Störtenbecker hat in Kleinsassen in den 1990er Jahren Symposien realistischer Kunst mit initiiert und gestaltet. Von ihm besitzt die Kunststation die Edition „Heimatmuseum“, neun Impressionen des Künstlers nach dem Roman von Siegfried Lenz, gedruckt als Farbholzschnitte. Beachtlich sind auch die sechs famosen Lithographien von Willi Sitte, die sich als Ehrungen alter Meister wie Caravaggio, Rubens, Camille Claudel und J. L. David verstehen. Welche Plastizität und Dynamik der Körper vermag dieser Künstler wiederzugeben! Susanne Bockelmanns riesenhafter Linolschnitt „Rittersporn“ bietet hierzu ein Gegengewicht.
Nahe des Eingangs zur Halle 2 weitet sich der Raum und lässt den Besucher in den schönsten Farben von Rot, Flaschengrün und Gelbgold schwelgen. Ölgemälde von Alexander Zyzik, Otto Rimmele, Predrag Hegedüs und Dare Birsa brillieren in diesem Raum. Die ungewöhnliche Arbeit aus Moor und roten Pigmenten von Max Schmelcher setzt ebenso wie die Papierarbeit von Harald Reiner Gratz (Only Remember), die Edition „Radierungen aus Venedig“ von Ulrich Hachulla (Auswahl von vier Blättern) und das gelbgrundige Gemälde mit Birke von Ratko Lalic an Nachbarwänden eigene Akzente. Auch hier „vertragen“ sich Realismus, reduzierte Formensprache, konkrete Kunst und Abstraktion miteinander und reflektieren an den Wänden ein lebendiges Kunstverständnis. Das setzt sich auch in Richtung Artothekseingang fort mit den Gemälden von Veronika Zyzik, Hartmut Best und Dusan Fiser. Der Gladiator, inszeniert und fotografiert von Nihad Nino Pusija, hing schon 2014 an dieser Stelle in der Ausstellung „Akate te Beshen“ mit Gegenwartskunst der Sinti und Roma. Jetzt steht er gleichsam abwehrbereit gegenüber dem „Milsbrand“, den einst Siglinde Kallnbach in Kleinsassen entfachte und im Fotodruck festhielt. Das Thema des Flammenden behandelt sodann die Edition „Glut“ von Künstlern des Meininger Kulturkreises, woraus drei Werke von Beate Debus, Jürgen Wisner und Dietrich Ziebart gerahmt wurden, während alle Textblätter und Bildgraphiken dieser Edition zur Nibelungensage nacheinander auf einem Monitor zu sehen sind.
Wie nah sich ältere und jüngere Kunst sein können, belegt das Gegenüber der konstruktiven Arbeit „Sequenzen“ von Otto Nemitz (ca. 1990) und der gerade angekauften Papierarbeit „New York“ von Detlef Waschkau (2019), der seinen gegenständlichen Darstellungen gleichfalls eine Rasterung zugrunde legt. Zwei Graphiken von Johannes Grützke – die Radierung „Selbst“ und ein Linolschnitt der Volksvertreter aus dem Paulskirchen-Zyklus – gehören ebenfalls zu den Schätzen der Artothek.
Was wäre aber eine Schatzkammer ohne Blattgold? Wer von außen die Treppe zur Kunststation emporgeht, dem strahlt an der Eingangswand zu Halle 2 die Arbeit „Explosion“ von Vladimir Skokov entgegen. Skokov, der zeitweilig in Kleinsassen arbeitete, kombiniert das Goldgrundige der Ikonenmalerei seiner Heimat mit Motiven der Gegenwart.
Außerhalb der Hallen sollen die zwei wunderbaren Papierarbeiten von Peter Paulus am Hauptzugang der Kunststation und von Anette Kramer im Café-Bereich sowie die zuletzt erworbene Figur von Volker März nicht vergessen sein. Verwiesen sei auch auf den Innenhof mit Malereien der Kunstaktion Spannungen (1992) und Skulpturen von Michael Ernst, Claus Weber und Ulrich Barnickel sowie auf den Skulpturengarten und Außenbereich vor der Kunststation, der seit 1990 immer wieder neue Werke aufnimmt, zuletzt Holzskulpturen von Heiko Börner und Thomas Putze.
Wer zum Schluss all die Schätze der Artothekssammlung, die keinen Platz in den Hallen gefunden haben, noch an den Ziehwänden und am Terminal selbst ausfindig machen will, den begleiten auf seinem Weg in den Artotheksraum humorvoll drei Tuschezeichnungen von Bernd Baldus. Damit die Sammlung ständig wachse und Künstler nicht den Gürtel noch enger schnallen müssen, wie Baldus befürchtet, kommen Sie bitte immer wieder in die Kunststation, besuchen Sie die Ausstellungen, diskutieren Sie angeregt über die Exponate und nutzen Sie die Artothek – auf das etwas nie versiege: die Lust auf Kunst!
Text: Kuratorin Dr. Elisabeth Heil