Eröffnungsrede der Kuratorin Dr. Elisabeth Heil
In ihrem neuen Frühjahrsprogramm bietet die Kunststation drei Ausstellungen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein können. Und doch eint sie etwas: Aus verschiedenen Positionen und mit unterschiedlichem Ergebnis befassen sie sich mit dem Menschen, seinem Bewusstwerden in dieser Welt und über diese Welt, seiner Wahrnehmung der Schönheiten und aller Probleme, Missstände und Unzulänglichkeiten und dem gelegentlichen, erholsamen Rückzug aus dieser Welt in sich selbst.
Landschaftserfahrung hat immer etwas mit dem Menschen selbst zu tun, mit seinem Schauen und Staunen. Und es kommt nicht von ungefähr, dass mit der neuen Hinwendung zur Welt in Renaissance und Humanismus auch Landschaftsbilder in der Kunst an Bedeutung gewinnen. Im Laufe der Jahrhunderte und vor allem in der Romantik entwickelt sich die Landschaftsmalerei zu einem eigenen Genre, das mehr ist als die Addition von Bergen und Wiesen, Himmel und Bäumen, Wolken und Seen. Licht und Schatten, Wetterlagen, atmosphärische Erscheinungen und Stimmungen – das alles spielt hinein und wirkt zusammen. Wenn wir draußen spazieren gehen, dann mag uns geologisches und botanisches Interesse für Details empfänglich machen. Aber schauen wir nicht gern zum Horizont, ins Dunstige und sind bezaubert von Nebelschwaden, die sich in Tälern und an Hängen entlangziehen? Werden wir nicht berührt vom Unklaren, das etwas Geheimnisvolles an sich hat, das wir mit den Augen zu erfassen suchen und das unsere Fantasie beflügelt? Träumerische Sehnsucht gehört zum Naturerleben dazu. Auch die Maler, die eine Landschaft porträtieren wollen, sind davor nicht gefeit. Um so mehr gilt dies bei denjenigen, die das Erlebte aus dem Momenthaften herausheben, denen die vielfältigen Stimmungen und Farbreize wichtiger sind als die wiedererkennbare topographische Darstellung.
Conrad Sevens gehört zu diesen Landschaftsmalern. 1941 in Düsseldorf geboren, hat er zunächst die Düsseldorfer Akademie besucht und danach die Académie des Beaux Arts in Paris. Er ist viel gereist und hat sich nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Tarascon in der Provence ein Atelier eingerichtet. Aufsteigende Nebelschwaden, kühles Morgenlicht, dunstige Weiten, flammendes Abendrot – aus der unerschöpflichen Quelle der Naturschauspiele gewinnt Conrad Sevens seine Motive, aber es ist eine reiche Quelle, die vor seinem inneren Auge sprudelt. In reduzierten, oft monochromen Tönen schieben sich Landschaftselemente, Licht- und Wettererscheinungen zwischen Himmel und Erde und verführen den Betrachter, in die unbedingten Weiten dieser Bilder hineinzugleiten – oft weniger in Bergwelt oder Flussniederung als in eine Welt zauberhafter Farben. Das Ineinanderfließen von Formen und Farben verbinden wir oft mit dem Aquarell, doch Conrad Sevens arbeitet stets mit Ölfarben und erzielt ähnliche Wirkungen des Sfumato durch eine lasierende, vielschichtige Malweise. Nicht immer verhält sich die Natur still und beherrscht. Gewaltig kann sie auflodern zu einem großen Farbspektakel, das alle Formen tilgt. Auch diese Seherlebnisse hatte Conrad Sevens und setzt sie um in abstrakt erscheinenden Gemälden. Adäquat zum anderen Bildthema ändert sich die Malweise, die intensiven, brillanten Farben werden vehement mit dem Spachtel aufgetragen. So vereint Conrad Sevens in seinem Oeuvre zwei Aspekte der Landschaften: einer empfindsam und ruhig ausgebreiteten, mehr erahnten und erfühlten als im Detail sichtbaren Welt einerseits und einer expressiven Wiedergabe farbstarker Ereignisse andererseits. In jedem Fall sind es „Ersehnte Landschaften“, vorgetragen in virtuoser Manier.
Volker März lenkt unseren Blick nicht in die Landschaft, sondern ins Leben der Menschen, ins Getümmel dieser Welt, in der er selbst auf vielen Reisen unterwegs ist. 1957 in Mannheim geboren, hat März an der Hochschule der Künste in Berlin Malerei studiert, und in Berlin hat er noch immer sein Atelier. Sein Oeuvre umfasst nicht allein Gemälde, sondern Plastiken und Skulpturen, Fotografien, Texte, Bücher, Filme, zusammengeführt in überbordenden, Aufsehen erregenden Installationen – so auch hier in der Kunststation. Und er fordert mit diesen Installationen eine intensive Betrachtung und Beschäftigung mit gesellschaftsrelevanten, brisanten Themen ein. „Was siehst Du?“ So beginnen viele seiner dialogisch angelegten Texte, die auch hier in der Ausstellung eine wichtige Rolle spielen. „Was siehst Du?“ In Kleinsassen eine Ausstellung über eine Welt, in der wir alle leben, voller Gefahren und voller Lust, mit politischen Diskussionen und Querelen, Zuneigung, Sex und zweifelhaften Erziehungsmethoden, Diffamierungen und Verfolgungen, Geschehnissen der Geschichte, überhaupt mit dem andauernden Strampeln, um im täglichen Leben zu bestehen zwischen Prinzipien, Moralvorstellungen und mangelhafter Umsetzung, Demagogie und Demokratie, zwischen gesellschaftlich-sozialen, philosophischen und politischen Analysen und der banalen Realität. Aus solchen Themen formt Volker März seine Geschichten, seine Figuren und Installationen. Vor allem liebt er fiktive Interviews und fiktive Erzählungen: Was wäre, wenn Kafka nicht gestorben, sondern nach Israel ausgewandert und dort als vermeintlicher Nazi hingerichtet worden wäre. Was wäre, wenn er später auf Bitten der israelischen Regierung zur Erde zurückgekommen wäre und Pina Bausch in Ramallah getroffen, sich unsterblich in sie verliebt und sie nach ihrer Flucht noch in Südafrika gesucht hätte … Absurd? Schrill, grotesk? Vielleicht, aber es können sich damit wichtige Fragen nach dem Selbstverständnis von Staaten und Religionen verknüpfen. Volker März befasst sich gern mit den literarischen, philosophischen und politischen Werken von Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Hannah Ahrendt und Frank Kafka und anderen – und reflektiert die Lektüre gern im distanzlosen, fiktiven Gespräch. Provokant legt er bloß, woran unsere Welt krankt, wo Regierungen und Systeme, wo Menschen irren. Diese Welt ist eine Welt der Aktionen, Begebenheiten und unendlich vielen persönlichen Wahrheiten, die sich zwischen den Menschen abspielen und die alles mit allem verweben. Volker März widmet sich diesen Geschichten, entwickelt sie in seinen Büchern, lässt sie begreifbar werden in einzigartigen Installationen aus markanten Texten, Gemälden und Figuren aus Ton und Holz. Seine Geschöpfe sind für ihn oft „Ersatzmenschen“, Stellvertreter, mit denen er bestimmte Situationen suggeriert und Zusammenhänge offenbart. In kleiner Größe bzw. unterlebensgroß erscheinen sie wie Puppen, die uns nicht in Respekthaltung versetzen und blockieren. Der Betrachter kann sich leicht ihren Geschichten hingeben, die Volker März hier in den vergangenen Tagen in dieser für ihn charakteristischen Weise in Szene gesetzt hat. Gedankenspiele werden möglich, die im Realen vielleicht gar nicht denkbar wären. Alles scheint erlaubt: Fabulieren, was wäre wenn, Anachronismen, Absurditäten ebenfalls, weil sie zum Leben dazugehören. Nicht alles ist verständlich, schon gar nicht sofort. Nicht alles ist mit tiefem Sinn behaftet und manchmal mit einem tieferem, als es zunächst erschien. Verstehen wir uns immer selbst? Wohl kaum. Das gilt auch für die großen Philosophen. Volker März fragte einmal – fiktiv natürlich – Walter Benjamin nach der Bedeutung eines Satzes über das Glück, den er nicht verstanden habe. Und Benjamin antwortet, er habe das damals nur so hingeschrieben. Selbstironie ist wichtig. Ohne Ironie keine Distanz. Ohne Distanz keine Größenverschiebungen, die Volker März so wichtig sind. Blicken wir von oben oder in die Welt der Figuren, erscheinen sie klein. Aus der Froschperspektive fotografiert, wirken sie menschengroß: Hannah Arendt badet im Meer, Franz Kafka durchwandert Prag und Tel Aviv, Pina Bausch tanzt in Ramallah, und Walter Benjamin könnte ein Bergmassiv verdecken. Auf den Blickwinkel kommt es an, Menschliches, Allzumenschliches vorzuführen. Lassen Sie sich durch die Ausstellung treiben, die keine Ausstellung im gewohnten Sinn sein soll, sondern ein einziger großer Platz des Lebens. Setzen Sie sich mitten hinein, sehen und beobachten Sie, lesen Sie, regen Sie sich auf, oder amüsieren Sie sich, kommentieren Sie! Seien Sie ohne Scheu und ohne falsche Ehrfurchtshaltung Teil der Welt, dem Abbild Ihrer Welt, die ein Affe für Sie angehalten hat: Kafkas Affe Herr Rotpeter, der nicht die Freiheit als solche wollte, sondern einen Ausweg aus seinem Gefangensein suchte und ihn im Varieté in der Nachahmung des Menschen fand. Finden Sie Ihren eigenen Zugang in die Ausstellung, Ihren Weg hindurch und auch Ihren ganz persönlichen Ausweg!
Im Weltgetümmel tut auch Kontemplation not, auch eine Rückbesinnung auf uns selbst – und wir finden hier diese Konzentration in Claudia Urlaß‚ Ausstellung „Die Flüchtigkeit der Zeit“. Im vergangenen Sommer hat die Künstlerin an der Ausstellung „KunstSpieleKunst“ mit einem interessanten Legespiel teilgenommen, das auf den Zahlenreihen des italienischen Mathematikers Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, aus der Zeit um 1200 basiert. Claudia Urlaß wurde 1984 in Heidelberg geboren. Sie studierte Malerei und Graphik in Karlsruhe und lebt und arbeitet heute in Wiesloch an der Bergstraße. Unsere Welt bietet stimmungsvolles Naturerleben wie bei Conrad Sevens, dazu Sinne und Gedanken aufwühlendes Treiben wie bei Volker März, und sie bietet auch Strukturen und Gesetzmäßigkeiten. Mit der Fibonacci-Reihe lässt sich nicht nur die Vermehrung von Kaninchen nachvollziehen, ihre Gesetzmäßigkeit liegt auch der Anordnung von Fruchtständen zugrunde und sie nähert sich arithmetisch dem Goldenen Schnitt. Claudia Urlaß erforscht gern mathematische Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die sie ihren famosen Bleistiftzeichnungen zugrunde legt. Minutiös gestaltet sie mit Bleistiften unterschiedlicher Härten dann die Anmutungen von Geweben und Spektren oder setzt Liedpartituren in Balkendiagramme um. Es ist ein diszipliniertes Arbeiten, langwierig, meditativ, um die mal zarteren, mal kräftigeren Linien und Flächen in vielen Grauabstufungen so präzise auf das Papier zu bringen. Bleistift auf Papier – das ist zumindest eine bekannte Kunstform. Objekte und Installationen aus Wäschetrocknerflusen sind etwas völlig Ungewöhnliches. Von den vielen Tonwerten von hellestem Grau bis Anthrazit und Schwarz her gibt es Parallelen zu den Bleistiftzeichnungen. Früher hat Claudia Urlaß mit starken Farben gemalt. Aber für die Auswahl einer Farbe brauchte sie stets eine Begründung. Die Reduktion auf Grauwerte bedeutet darum für die Künstlerin selbst die Muße, nicht nach solchen Begründungen suchen zu müssen und sich ganz der Welt ihrer konkreten Kunst hingeben zu können. Und dem Betrachter beschert sie die „farblose“ Stille feiner Strukturen und Nuancen und enthebt ihn der Flüchtigkeit der Zeit.
Bei aller Beschäftigung mit der Welt, trotz allen Nachdenkens und Verstehen-Wollens, es bleiben immer Rätsel, Geheimnisse, es bleibt immer etwas nicht Definierbares zurück. Aber das ist doch, was unser Bewusstsein immer wieder aufs Neue weckt – zum Naturerleben, zur unbequemen Auseinandersetzung mit uns und unserer Umwelt, zum Blick auf die Feinheiten und Schönheit von etwas, das wir Struktur, aber auch wohltuende Ordnung nennen können. Ist nicht immer die Suche nach dem, was alles in uns und um uns herum verbindet, letztlich die Suche nach einer Weisheit, die nach Walter Benjamin die epische Seite der Wahrheit ist und verloren zu gehen droht? Vielleicht überlebt sie am ehesten in der Kunst.