Rede von Kuratorin Dr. Elisabeth Heil:
„Dominium terrae“ – Robert Kunec‘ selbstgewählter Ausstellungstitel könnte auch das Herbstprogramm der Kunststation überschreiben. „Dominium terrae“ bedeutet – aus dem Latein übersetzt – „Die Herrschaft über die Welt“. Macht Euch die Erde untertan, vermehrt Euch, bevölkert sie, so steht es als göttlicher Auftrag an den Menschen am Anfang der Schöpfungs-geschichte im Alten Testament. Was an Negativem am Herrschaftsauftrag herauskommt, davon berichten tagtäglich die Nachrichten über Kriege, Anschläge, Klimawandel etc. Was beim Bevölkern der Welt auch herausgekommen ist, das ist ein Parzellieren unseres Planeten Erde, ein Durchziehen mit Wegen und Straßen, ein Bilden von Räumen unterschiedlicher Nutzung im Großen wie im Kleinen, ein Siedeln und Zersiedeln mit Gebäuden für vielerlei Aufgaben und hier und da ein Gestalten von Plätzen für Durchquerung, Zusammentreffen und Kommunikation. Überall auf der ganzen Erde sind wir Menschen in Bewegung, auch in der Kunststation Kleinsassen: „Unterwegs“ in Teresa Dietrichs gleichnamiger Ausstellung, „In the Cities“ von Detlef Waschkau und in der Rauminstallation „Dominium terrae“ von Robert Kunec.
Architekturen, Stadträume, Plätze, Wohnungen – das sind in vielen Jahrhunderten gewachsene Strukturen, die das Mit-einander der Menschen ermöglichen und gestalten und die auch in ihrem Kontext von Landschaft, Licht und Schatten zum Erlebnis werden. Wen würde es nicht berühren, wenn Sonnenlicht eine Kirche oder einen Kreuzgang durchdringt, wenn Licht und Schatten auf Wand und Boden „zeichnen“? Die Malerin Teresa Dietrich (1953 geboren in München, Atelier in Fulda) hat solche überwältigenden Eindrücke aus dem Kloster Steinfeld (Eifel) in sich aufgenommen und mit Ölfarben auf die Leinwand gebannt. Und Sie können dies über die monumentale Serie „Steinfeld“ nacherleben. Es sind keine realistischen Wiedergaben der Gebäude. Vielmehr führte Teresa Dietrich die architektonischen Elemente mit Licht und Schatten zu einer Textur geomet-rischer Formen, in die verhalten auch Eindrücke von Perspektive und Räumlichkeit einflossen.Dass sich die Künstlerin danach immer intensiver der Collage zuwandte, erscheint vor diesem Hintergrund geradezu zwin-gend. Reihung und Schichtung, Öffnungen und den Blick versperrende Glieder, Hell und Dunkel in allen Abstufungen, Oberflächenstrukturen und Farbreichtum in feinen Nuancen, Transparenz und Geschlossenheit, perspektivische Illusion und Bildparallelität – all das Gesehene und Erlebte gewinnt in dem vielgestaltigen Kunstgenre überdies an haptischen Qualitäten. Teresa Dietrich sammelt interessante, geeignete Materialien, färbt und strukturiert die Papiere oft selbst und verwendet auch Prints von Fotografien, die sie auf ihren weiten Reisen selbst gemacht hat. Für ihre Intentionen hat sie das Mittel der Collage immer weiterentwickelt, perfektioniert und auch ins größere Format gesteigert. Meist entstehen mehrteilige Werk-serien wie „Triangoli“, „Bilderbriefe“ und „SpurenFinden“, die geometrische Elemente und konstruktive, architektonische Ordnungen aufgreifen und Erlebnisse in Stadträumen widerspiegeln. In einem Ausstellungsraum präsentiert Teresa Dietrich ihre neue, beeindruckende Serie „Bodenverlegungen“, die selbstverständlich auf dem Boden liegend gezeigt werden. Unter-schiedliche Beläge, Pflasterarten, Ausflickungen und farbige Verkehrsanweisungen ergeben oft ein pittoreskes, aber auch strukturiertes Bild, auf das die Künstlerin in vielen Großstädten aufmerksam wurde. Ihre zahllosen Fotografien hat sie nun ausgewertet und zu großflächigen Bodencollagen künstlerisch umgesetzt – wiederum mit selbst gefärbten und strukturierten Papieren. Und Sie können nun zwischen den Plätzen und Straßen von Madrid, Bilbao und Sofia wandeln!
Zu einem Spaziergang durch New York, Istanbul, Peking, Osaka, Amsterdam und Berlin lädt die Ausstellung des Bildhauers und Malers Detlef Waschkau ein (1961geboren in Hannover, Atelier in Berlin), der in seinen einprägsamen Werken beide Genres untrennbar miteinander verbindet. Er verwendet Schichtholzplatten, die er zuerst mit Pigmenten lasierend und völlig frei bemalt. Entsprechend seinem Motiv, das häufig auf eigenen Fotografien von fernen Reisen basiert, nimmt er danach eine Rasterung der Bildfläche vor, zeichnet die Stadträume und Architekturen – oft mit den dort tätigen oder sich bewegen-den Menschen – auf und bearbeitet sukzessive die Felder zu Reliefs. Dabei wird die ursprüngliche Farbschicht eliminiert, neue Übermalungen bzw. Kolorierungen folgen nach und verschwinden teilweise wieder mit der bildhauerischen Weiterarbeit. Im engsten handwerklichen und kompositionellen Bezug von Reliefarbeit und Malerei formieren sich die Wandbilder. Manchmal bleiben die Zeichnungen skizzenhaft stehen, manchmal werden Felder geradezu „entleert“ zu einer freien Fläche. Leben in Städten – und auch anderswo – heißt ständiges Treiben, Kommen und Gehen. Was wir gerade noch wahrgenom-men haben, ist im nächsten Augenblick vergangen und existiert in unserer Erinnerung nur noch partiell. Und so kann es sein, dass von einem Menschen nur sein Tattoo im Gedächtnis bleibt, die Waffe am Gürtel oder die rote Hose – mehr nicht. Dieses schnelle, stückhafte Wahrnehmen fließt in Waschkaus Bildwerden und Bildgeschehen ein, darum wirken seine Arbeiten so momenthaft, lebensnah, dynamisch. Darum sind Sie mit ihm und seinen Arbeiten tatsächlich unterwegs in den pulsierenden Metropolen der Welt. Die Rasterung erweist sich als Ordnungsprinzip der Bildfindung und -entwicklung, aber auch unseres Lebens – vom normierten Alltagsgegenstand bis zu Wegesystemen und Gebäuden.
Bewegen wir uns durch die Ausstellungshallen und die Stadträume von Teresa Dietrich und Detlef Waschkau, so gelangen wir gleichsam in das Innere, das Private einer Architektur – in eine Wohnung, die der Bildhauer Robert Kunec (1978 geboren in Bardejov/Slowakei, Atelier in Halle/Saale) in seiner Ausstellungshalle einer beeindruckenden Installation unter dem nicht minder beeindruckenden Titel „Dominium terrae“ aufgebaut hat. „SIE und ER – WER sind WIR?“ Diese Titelfrage einer Wettbewerbsausstellung in der Kunststation im Winter 2017/2018 be-antwortete Robert Kunec in ebenso überraschender wie tiefgründiger Weise mit seiner bildhauerischen Arbeit „Kollateral-schaden“ und verwies damit auf den skrupellos-beiläufigen zerstörerischen Umgang der Menschen miteinander. Die Frage nach dem „Wer sind wir?“ treibt den Künstler weiter an und lässt ihn zu den Anfängen der Menschheit, auf die Gegenwart und in die Zukunft gleichermaßen blicken. In der Rauminstallation vereint Robert Kunec in sinnreichen Bildern Objektkunst und ein plastisches modelliertes Menschen-paar und beweist damit erneut sein hohes handwerkliches und bildhauerisches Können, im Einzelnen ein fundiertes ikonographisches Wissen und allgemein eine außergewöhnliche Intensität und Tragweite von Fragestellungen an unser aller Dasein. Dass Objektkunst und figürliche Plastik so aufeinandertreffen, dass ein Künstler beides auf diesem Niveau vermag, ist ungewöhnlich und etwas Besonderes.Die große Halle der Kunststation unter ihrem offenen Dachstuhl gliedert Kunec als Wohnung mit uns bekannten Räumen. Diese werden pars pro toto und sinnbildhaft charakterisiert von Objekten mit Gebrauchsspuren und damit eigener Nutzungsgeschichte, die dem Besucher unmittelbar Anknüpfungspunkte für eigene Erinnerungen bieten. In der „Küche“ umschlie-ßen alte Stuhlsitze eine Feuerstelle, verweisen auf Notwendigkeiten des Lebens, auf Gemeinschaft und Individualität. Im „Schlafzimmer“ wurde ein Doppelbett mit Sprungrahmen umgebaut und erweckt jetzt den Eindruck eines Flügelaltares. Im Bett beginnt und endet schließlich oft das menschliche Leben. Ein bemalter Handwagen würde als nettes Kinderspielzeug erscheinen, wenn nicht Symbole aus Passion und Martyrium an unbeschwertem Aufwachsen zweifeln ließen. Allem haftet etwas Religiöses an, ja die Rauminstallation gewinnt den Charakter einer Kultstätte. Es spricht für Kunec‘ Gesamtwerk, dass nichts ins Banale oder Kitschige abgleitet. Und obwohl Künstler und Besucher sich durchaus über Zeichen aus christlicher Tradition verständigen, gerät diese Installation nicht zu einem kirchlichen Glaubensmanifest. Im Gegenteil: Existentielle Fra-gen werden hier aufgeworfen und personifizieren sich im Menschenpaar in der Mitte seiner ahistorischen Behausung. Homo neanderthalensis und Homo sapiens treffen als Mann und Frau hier aufeinander. Der Frage, was dieses Menschenpaar für ihn bedeutet, begegnet der Künstler mit der Frage, ob man sich so den Anfang von Liebe vorstellen könne? Gedanken über Familie, Zuhause, Heimat und Migration können und sollen sich freilich anschließen, tragen wir doch alle Gene des Neander-talers wie der Afrikanerin in uns. Gute Sinnbilder sind nicht dazu da, einfache Antworten zu bieten, wohl aber tiefes Nachdenken in vielerlei Richtungen an-zustoßen. Und gerade das minimalistisch Vorgetragene kann uns erschaudern lassen. Alles im Leben hat gute und schlechte Seiten. Vor der Behausung kreist ein Holzklotz mit Zimmermannsbeil schnarrend auf einer Drehscheibe, von Kunec als „Ursprung der Gewalt“ bezeichnet. Das Beil in der Hand des Menschen kann – wie der Faustkeil in der Hand des Neandertalers – segensreich wirken, ein Haus kann entstehen, Mobiliar oder Brennholz für Küche und Zimmer. Beil wie Faustkeil sind aber auch als todbringende Waffen einsetzbar.
„Dominium terrae“ – Herrschaft über die Erde: Es ist am Menschen, es ist an uns allen, sich zu entscheiden zwischen segens-reicher Tatkraft und zerstörerischer, nutzloser Gewalt, wenn wir unterwegs sind – daheim, „in the cities“ und überall auf dieser Welt.